Julia Kotun stammt aus Charkiw und floh wegen des Krieges vor über einem Jahr hierher nach Deutschland. Heute spricht sie schon hervorragend Deutsch und gibt hier anderen Ukrainerinnen Tipps für die erste Zeit in Deutschland. Sie erzählt, was in Deutschland anders ist und was ihr geholfen hat, sich hier zurechtzufinden.
1 TEMPO & GEDULD
Als ich hierher nach Deutschland kam, habe ich meine Koffer zunächst gar nicht ausgepackt. Wir dachten alle, dass der Krieg in wenigen Tagen oder Wochen vorbei sei. Wir lebten die ersten Wochen zu sechst mit zwei Hunden in einer Wohnung mit einer großen Couch als Bett. Nach drei Wochen bekam ich mit meiner Tochter eine eigene Wohnung. Heute weiß ich: das war für deutsche Verhältnisse unglaublich schnell. In der Ukraine geht das meiste sehr viel schneller, man muss sich erst an das langsamere Tempo in Deutschland gewöhnen. Mein Tipp Nummer 1: Geduld haben. Es wird schon, nur etwas langsamer, als wir es gewohnt sind. Und in Deutschland können wir aufatmen: Wir sind in Sicherheit.
2 PAPIERE
In der Ukraine laufen fast alle Amtsangelegenheiten digital – in einer App sind Pass und wichtige Dokumente aufrufbar und hinterlegt. Nicht so in Deutschland: Hier sind Papierformate immer noch sehr wichtig. Es gibt auch einen deutschen lustigen Spruch dazu:
„Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare.“ Das heißt, von Geburt bis zum Tod dreht sich alles um Formulare, meist noch in Papierformat.
Mein TIPP Nummer 2: Immer alles Wichtige ausdrucken und schriftlich festhalten.
3 KINDER & SCHULE
Schulkinder in der Ukraine erleben eine strengere Pädagogik. Sie machen ihre Hausaufgaben, weil sonst eventuell Strafen folgen könnten. Hier ist das Schulsystem lockerer, die Kontrolle geht von den Eltern, nicht von den Lehrern aus. Das führt manchmal dazu, dass Kinder denken, sie bräuchten gar nichts zu lernen oder tun, weil Konsequenzen ausbleiben.
Mein Tipp Nummer 3: Als Elternteil Schulerfolge & Hausaufgaben bei Kindern kontrollieren.
4 DEUTSCH
Das Deutsche ist gar nicht sooo schwer, auch wenn es bestimmte Herausforderungen gibt: Die deutschen Artikel (der, die, das) sind schwierig, da sie meist auswendig gelernt werden müssen. Was mir geholfen hat: Kleine, kurze Lern-Videos auf Tiktok oder Youtube, Kinderbücher, später Fernsehen und Radio. Durch die Sprachkurse hat man ein ‚Skelett‘, das man durch persönlichen Kontakt und Gespräche mit Deutschen dann ausbauen kann. Mein Tipp Nummer 4: Mehrere Kanäle nutzen zum Deutsch-Lernen.
5 KULTUR & HILFEN
Die deutsche Kultur ist gar nicht so extrem anders, auch, wenn es einige Unterschiede im Alltag gibt. Am Anfang empfand ich die Straßen als extrem leer, weil ich aus einer Millionenstadt mehr Menschen gewohnt war. Auch dass so viele Senior*innen in Cafés sitzen und gemütlich Kaffee trinken, war für mich auffällig. Bei uns sind alte Personen meist zu arm dazu, sich das zu leisten.
Deutsche schminken sich viel weniger als wir Ukrainerinnen, das war lustig zu bemerken. Gewöhnen musste ich mich an die anderen Öffnungszeiten: Bei uns in Charkiw haben die Supermärkte sieben Tage in der Woche durchgehend geöffnet, hier musste ich schauen und planen, ob ich ausreichend Lebensmittel für Sonntage habe, an denen kein Einkauf möglich ist. Apropos Einkauf: Bestimmte Lebensmittel schmecken hier schon sehr anders: Tomaten und Gurken haben nicht den guten Geschmack wie bei uns – leider. Manche Lebensmittel, wie z.B. besondere Süßigkeiten, lassen sich aber gut in bestimmten russischen oder polnischen Lebensmitteln einkaufen.
Es gibt bei uns das Vorurteil, dass Deutsche sehr zurückhaltend oder gar abweisend sind. Das kann ich gar nicht bestätigen. Ich habe sie als hilfsbereit erfahren.
Mein Tipp Nummer 5: Immer um Hilfe fragen, wenn man sie braucht.